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Eine Bilanz: Ein Jahr Verkehrspolitik der neuen Thüringer Landesregierung
Was sind Wahlversprechen wert?
Ende 2009 nahm die neue Thüringer Landesregierung ihre Arbeit auf. Der gemeinnützige Fahrgastverband Pro Bahn nimmt die einjährige Amtszeit zum Anlass für eine kritische Analyse der Verkehrspolitik, die seitdem von Verkehrsminister Christian Carius (CDU) verantwortet wird.
Der Fahrgastverband hatte vor Jahresfrist die verkehrspolitischen Vorhaben der neuen Landesregierung begrüßt. Im Koalitionsvertrag wurden als verkehrspolitische Ziele unter anderem vereinbart:
- Verlagerung von soviel Verkehr wie möglich von der Straße auf die umweltfreundliche Schiene
- Sicherung der grundlegenden Raumerschließung mit der Eisenbahn
- Bessere Vernetzung des öffentlichen Straßenpersonennahverkehrs und des Schienenpersonennahverkehrs
- Intensivere Nutzung flexibler Bedienformen wie Rufbus und Sammeltaxi
- Dauerhafte Anbindung Ostthüringens an den Fernverkehr
- Wiederaufbau der Werrabahn und der Höllentalbahn
- Schneller zweigleisiger und elektrifizierter Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung
- Ende der Gigaliner-Versuche in Thüringen
"Leider müssen wir uns heute die Frage stellen, ob die Regierung diese Ziele überhaupt erreichen will, ob sie die Wahlversprechen, die sie den Wählern vor der Wahl gab und die Eingang in die Koalitionsvereinbarung fanden, überhaupt ernst nimmt", so Bernd Schlosser, Vorsitzender des Landesverbandes. "Tatsächlich muss man eher den Eindruck gewinnen, dass das Verkehrsministerium eine eigene Agenda verfolgt, die das Gegenteil der von der Koalition formulierten verkehrspolitischen Ziele bedeutet."
So sind hinsichtlich des übergeordneten verkehrspolitischen Zieles, so viel Verkehr wie möglich von der Straße auf die umweltfreundliche Schiene zu verlagern und mit der Eisenbahn die grundlegende Raumerschließung zu sichern, keinerlei Bemühungen zu erkennen, die dieses Ziel befördern könnten. Im Gegenteil: Die Landesregierung kürzt die eigenen Zuzahlungen an den Schienenpersonennahverkehr (SPNV), missbraucht die vom Bund überlassenen Regionalisierungsmittel für andere Zwecke, wie zum Beispiel die Finanzierung des Busverkehrs und sieht dem weiteren Rückzug des Schienenpersonenfernverkehrs (SPFV) aus dem Freistaat tatenlos zu. Im Ergebnis ist es wenig überraschend, wenn statt eines Angebotsausbaus derzeit überall im Thüringer Streckennetz Züge abbestellt und Bahnhöfe geschlossen werden. In Westthüringen steht mit Gotha - Gräfenroda sogar eine ganze Strecke vor dem Aus, die unter der Vorgängerregierung noch aufwendig saniert wurde. Auf der stark nachgefragten Mitte-Deutschland-Verbindung, auf der seit Jahren volle Züge an der Tagesordnung sind, hat das Verkehrsministerium für die Regionalbahnleistungen ab Mitte 2012 leichte Nebenbahntriebwagen bestellt, die weniger statt mehr Platz bieten. "Wie mit dieser Angebotspolitik Verkehr auf die Schiene verlagert werden soll, ist uns schleierhaft", so Bernd Schlosser.
Auch dem Ziel, den öffentlichen Straßenpersonennahverkehr und den Schienenpersonennahverkehr besser zu vernetzen, ist die Landesregierung keinen Schritt näher gekommen. Im Gegenteil ist bis heute noch nicht einmal zu erkennen, mit welchen Mitteln die Landesregierung dieses dringend notwendige verkehrspolitische Ziel erreichen will. Selbst im gerade erweiterten Verkehrsverbund Mittelthüringen (VMT), den der Freistaat mit Zuschüssen aus den Regionalisierungsmitteln unterstützt, sind bis heute keine wesentlichen Fortschritte in dieser Richtung zu erkennen. So zahlen zwar die Bahnfahrgäste zwangsweise die Nutzung von kommunalen Verkehrsmitteln mit, können sich aber noch immer nicht darauf verlassen, dass der Bus oder die Straßenbahn am Bahnhof auch warten, wenn der Zug ankommt, und sie das mit bezahlte Angebot auch tatsächlich nutzen können.
Völliger Stillstand herrscht auch bei der Frage, wie Ostthüringen nach der Inbetriebnahme der Neubaustrecke durch den Thüringer Wald und der damit drohenden Verlagerung der ICE-Linie Berlin - München künftig an das Fernverkehrsnetz angebunden werden soll. Im Gegensatz zum Wahlversprechen, sich für adäquaten Ersatz auf der Saalbahn einzusetzen, sind in der Landesregierung keinerlei Bemühungen in diese Richtung feststellbar. Auch für den ab 2015 wegfallenden Fernverkehr im Abschnitt Erfurt - Halle/Leipzig werden keine Lösungen kommuniziert. Auf den von den Anliegerkommunen veranstalteten Konferenzen glänzte Minister Carius bisher durch Abwesenheit.
Bei den Investitionen ist das Bild durch lähmenden Stillstand gekennzeichnet. Nach wie vor und entgegen der Versprechen im Wahlkampf steckt die Landesregierung jeden Euro, den sie in die Hände bekommen kann, ausschließlich in die Neubaustrecke durch den Thüringer Wald. Andere, landes- wie verkehrspolitisch sinnvollere Projekte haben keine Chance auf Realisierung. So ist noch nicht einmal in vergleichsweise preiswerte Projekte wie den versprochenen Wiederaufbau der durch die innerdeutsche Grenze unterbrochenen Werrabahn oder die für die Ostthüringer Holzwirtschaft besonders wichtige Höllentalbahn Bewegung gekommen. Der Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung, deren Bedeutung die Landesregierung nicht müde wird zu betonen und von der, anders als bei der Neubaustrecke durch den Thüringer Wald, viele Thüringer Bürger und Kommunen täglich und sofort ganz unmittelbar profitieren würden, bewegt sich keinen Millimeter. Werden in anderen Bundesländern in vergleichbaren Fällen eigene Mittel zur Vorfinanzierung eingesetzt, um erfolgreich den Ausbau zu beschleunigen, wie zum Beispiel in Sachsen im Fall der Elektrifizierung der Sachsen-Franken-Magistrale und der Strecke Chemnitz - Geithain, so wird in Thüringen der angebliche Wille der Landesregierung durch Untätigkeit zum ausschließlichen Lippenbekenntnis.
Warum es gerechtfertigt ist, die Frage zu stellen, wie ernst die Landesregierung ihre eigenen verkehrspolitischen Ziele nimmt, ist spätestens am versprochenen Ende der Gigaliner-Versuche in Thüringen zu erkennen. Hier hat es Minister Carius tatsächlich fertiggebracht, im Bundesrat bei der Abstimmung zur Durchführung eines bundesweiten Tests im klaren Widerspruch zur Koalitionsvereinbarung für Thüringen mit "Ja" abzustimmen. Deutlicher hätte der Minister dem Koalitionspartner und dem Wähler nicht zeigen können, was ihm Koalitionsvertrag und Wahlversprechen wert sind: Offensichtlich nichts! Und offenbar steht die Verkehrspolitik auch bei Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und dem Koalitionspartner SPD nicht besonders hoch im Kurs, denn sie schauen dem Treiben des Ministers tatenlos zu.
Informationen zu Pro Bahn
Pro Bahn ist ein gemeinnütziger Verbraucherverband für die Fahrgäste öffentlicher Verkehrsmittel wie Bahn und Bus. Er ist deutschlandweit tätig und als Bundesverband mit Landes- und Regionalverbänden organisiert.
Rückfragen bitte an Bernd Schlosser (Vorsitzender), Tel.: 036963-20040, E-Mail: b.schlosser@thueringen.pro-bahn.de
v.i.S.d.P.: Olaf Behr