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PRESSEMITTEILUNGEN

Gedanken zur Thüringer Schienenverkehrspolitik

Gedanken zur Thüringer Schienenverkehrspolitik

Seit etwas mehr als einer Woche herrscht Aufregung im politischen Erfurt. Eine für das Umweltbundesamt verfertigte Studie zur Entwicklung des Schienengüterverkehrs führt die Neubaustrecke Halle – Erfurt – Ebensfeld (- Nürnberg) als „Fallbeispiel einer (absehbar) verfehlten Investitionspolitik“ auf. Die Strecke sei unwirtschaftlich, ihr fehle jegliche Legitimation, die verkehrspolitisch-betrieblich beste Handlungsoption sei nach wie vor der Abbruch des Projektes, auch zwei Milliarden Euro „versunkene“ Baukosten« seien kein Argument, weitere sechs Milliarden Euro „gutes Geld“ zu investieren.

Als wäre damit in ein Wespennest gestochen worden, äußern sich Vertreter der Landtagsparteien unter strikter Wahrung der Fraktionsdisziplin pro (CDU, SPD, FDP) oder kontra (Grüne, Linke). Bei nicht wenigen Reaktionen muss man unwillkürlich an die sprichwörtlichen getroffenen Hunde denken. Aber warum die ganze Aufregung, wenn doch eine Neubewertung der Strecke nicht zu befürchten ist und die Verfasser der Studie bereits einräumen, dass ein Baustopp politisch sowieso nicht durchsetzbar erscheint?

Anstatt nun Fakten zu liefern, die die Wirtschaftlichkeit der Neubaustrecke Halle-Erfurt-Nürnberg untermauern, kommen aus dem Thüringer Verkehrsministerium nur Zahlen über die bisher verbauten Mittel. Und die sind auch noch irreführend, denn man hat offensichtlich die Ausbaukosten der längst fertiggestellten und unstrittigen Ausbaustrecke Leipzig-Berlin mit eingerechnet, möglicherweise in der Absicht, einen möglichst hohen Grad bereits investierter Mittel zu zeigen. Fakt ist: laut Verkehrsinvestitionsbericht 2009 der Bundesregierung soll die Neubaustrecke Halle-Erfurt-Nürnberg 7,9 Milliarden Euro kosten, von denen bis Ende 2009 rund 2,3 Milliarden investiert waren. Damit verbleiben noch zu investierende 5,6 Milliarden Euro, das sind 70% der Gesamtkosten, Preissteigerungen vorbehalten. Letztendlich beschleicht den sachkundigen Leser angesichts solcher Reaktionen das Gefühl, dass es mit der Wirtschaftlichkeit der Neubaustrecke tatsächlich nicht zum Besten steht, und es entsteht der Eindruck, dass es Verkehrsminister Carius egal ist, ob mit Steuergeldern wirtschaftlich umgegangen wird oder nicht.

Dass er auch anders kann, zeigt der Minister gerne bei regionalen und nicht so prestigeträchtigen Projekten. Erst vor kurzem lehnte er zum Beispiel den Lückenschluss der Werrabahn ab, weil dieser unwirtschaftlich sei. Im Rückblick muss dies erstaunen, denn für den Lückenschluss war ein Güterpotential von 3,4 Millionen Tonnen jährlich geschätzt worden. In einer Reaktion auf die Studie zur Neubaustrecke verweist der Minister nun auf Potentialschätzungen aus dem Bundesverkehrsministerium zum Güterverkehr für die Neubaustrecke in zufällig gleicher Höhe. Wie kann es aber sein, dass die gleiche Menge, rund 10 Güterzüge pro Tag, einmal eine Investition von 8 Milliarden Euro in die Wirtschaftlichkeitszone katapultieren können, während sie andererseits für eine Strecke nicht ausreichen, die für weniger als 1% dieser Summe zu haben wäre? Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass der Werrabahn-Lückenschluss nicht nur Selbstzweck wäre, sondern auch für eine regionale Erschließungsfunktion der Neubaustrecke sorgen und damit letztlich einen Beitrag zu deren Wirtschaftlichkeit leisten würde. Deutlich wird aber jedenfalls: Von den ursprünglich der Wirtschaftlichkeitsrechnung zugrunde liegenden Güterzugzahlen, 190 Güterzüge je Tag, ist man inzwischen meilenweit entfernt.

Immer wieder wird auf die europäische Bedeutung der ICE-Strecke als Verbindung von Italien nach Skandinavien verwiesen. Für diese Relation ist jedoch im Güterverkehr nicht der Thüringer Wald das Hindernis, sondern der überlastete Knoten Nürnberg/Fürth im Süden und fehlende Verbindungen im Raum Hamburg, deren Behebung nicht absehbar ist. Der Saalbahn-/Frankenwaldkorridor hingegen, über den die Güterzüge heute rollen und den die Neubaustrecke entlasten soll, weist der UBA-Studie zufolge „beachtliche Reserven“ (beziffert auf 200 bis 300 zusätzliche Güterzüge/Tag!) auf. Aus Sicht des europäischen Güterverkehrs wird also Entlastung an einer Stelle geschaffen, wo sie kapazitiv überhaupt nicht nötig ist, während sich an den Flaschenhälsen nichts ändert. Neben dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und dem Netzwerk Privatbahnen hat dies auch längst die DB erkannt und treibt mit heutzutage ungewohnter Geschwindigkeit den Ausbau der Strecke von Leipzig über Hof nach Regensburg voran, die zumindest den überlasteten Knoten Nürnberg umgeht. Damit aber ist auch klar: Das Problem, dass die Neubaustrecke den Güterverkehr nicht anziehen wird, mit dem sie einst wirtschaftlich gerechnet wurde, ist auch mit den Nachbesserungen, die prompt einige Thüringer Politiker fordern, nicht zu beheben.

Doch auch die wirkliche Bedeutung für den Personenverkehr wird weiterhin nicht belegt. Das für die Neubaustrecke vorgesehene Betriebsprogramm ist ein sehr gut gehütetes Geheimnis von Politik und DB AG. Optimistische Vermutungen gehen davon aus, dass es auf dem Abschnitt durch den Thüringer Wald im besten Fall zwei Fernverkehrszüge pro Stunde und Richtung geben wird, eine für eine rund 5,1 Milliarden Euro teure Investition geradezu lächerliche Nutzung.

Die Inbetriebnahme der Neubaustrecke wird zu bedeutenden Änderungen im gesamten deutschen Fernverkehrsnetz führen. Die Zeiten für die Taktknoten werden sich verschieben, und folglich die Anschlüsse und Fahrzeiten im Regionalverkehr. Hierzu ist erstaunlicherweise eben so wenig zu erfahren, wie zu den dafür notwendigen Netzausbauten in Thüringen. Das beweist die Lektüre des aktuellen Thüringer Nahverkehrsplanes: Darin werden für einzelne Nahverkehrszugarten lediglich Durchschnittgeschwindigkeiten aufgelistet. Darüber, wie diese Züge untereinander sowie mit den Fernverkehrsknoten vernetzt sein sollen, ist nichts zu lesen. Ebenso ist nichts über die raumordnerisch gewünschten Verknüpfungspunkte in den Regionen für einen Integralen Taktfahrplan zu sehen, von den dazu nötigen Ausbauszenarien für die betroffenen Strecken (als eigentlichem Kern des Nahverkehrsplanes) einmal ganz zu schweigen. Stattdessen wird von der Politik gerne der Eindruck erweckt, dass die laufenden oder abgeschlossenen Streckenausbauten zielgerichtet auf die Inbetriebnahme der Neubaustrecke hin durchgeführt worden seien, obwohl das Betriebsprogramm (Anzahl der Züge, Taktzeiten) bisher nirgends kommuniziert wurde.

Zwar ist nicht bekannt, wie der Verkehr auf der Neubaustrecke dereinst aussehen wird, trotzdem wird sie als „unverzichtbar“ gepriesen, um Thüringen an den Rest der Welt sowie das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz anzuschließen. Unwillkürlich fragt man sich, warum der Aufschrei der Landtagsmehrheit ausblieb, als bekannt wurde, dass die DB zum Fahrplanwechsel im Dezember 2010 fast alle Intercity-Züge zwischen Thüringen und der Bundeshauptstadt einstellen wird. Auf diese IC „pocht“ die Landtagsmehrheit interessanterweise nicht, obwohl erstmals seit etwa 120 Jahren bei Fahrten von Erfurt nach Berlin umgestiegen werden muss. Auch zum ICE-Knoten Kassel wird man ab Jahresende nur noch mit Regionalzügen fahren können. Dazu äußert sich Minister Carius nicht, genauso wenig wie zu der Frage, welcher Ersatzfernverkehr die für die zweitgrößte Stadt Thüringens, die Städte im Saaletal und zwischen Weimar und Leipzig ab 2017 drohende deutliche Verschlechterung der überregionalen Erreichbarkeit abfedern soll.

Wie kommt es, dass das Thüringer Verkehrsministerium einerseits auf den ICE ab 2017 pocht, andererseits aber dazu schweigt, dass ganze Thüringer Regionen bei der überregionalen Erreichbarkeit auf der Schiene ins Abseits gedrängt werden? Indem die Landesregierung diesen Rückzug des Fernverkehrs offensichtlich akzeptiert, signalisiert sie, dass ihr die direkte und umsteigefreie Anbindung dieser Regionen durch den nationalen und internationalen Fernverkehr gleichgültig ist. Dieses Signal wird von DB Fernverkehr und im Bund sicher beachtet.

Ein Blick in ein Papier, das am Freitag letzter Woche in der Öffentlichkeit auftauchte, lässt ahnen, warum das so ist und warum das Gutachten des UBA für soviel Aufregung in Thüringen sorgt. Es geht um den Finanzierungsplan für die Schienenbedarfsplanprojekte bis 2020, den Bundesverkehrsminister Ramsauer gerade dem Verkehrsausschuss zugeleitet hat. In diesem Papier sind für die Neubaustrecke durch Thüringen noch zu tätigende Investitionen in Höhe von rund 5 Milliarden Euro angegeben, von denen jedoch tatsächlich im Zeitraum 2010 bis 2020 nur 3,4 Milliarden eingeplant sind. Dabei fallen sowohl die Abweichungen bei den Gesamtkosten, die niedrigere Summe der eingeplanten Kosten sowie deren Verteilung (die Planung sieht bis 2020, also lange nach dem Fertigstellungstermin, konstant hohe Beträge vor) ins Auge. Nimmt man diese Zahlen ernst, ist der für die Neubaustrecke geplante Fertigstellungstermin 2015/2017 ohne zusätzliches Geld nicht mehr zu halten. Und noch etwas zeigt die Liste: Mit der Neubaustrecke durch Thüringen und dem Großprojekt Stuttgart 21 sind mehr als die Hälfte, zusammen mit den sonstigen bereits begonnenen Ausbauvorhaben faktisch das gesamte Geld für Neu- und Ausbau von Schienenwegen (jährlich 1,1 – 1,2 Milliarden. Euro) der Bundesrepublik Deutschland auf die nächsten 10 Jahre komplett verplant und kein einziger Neubeginn mehr möglich. Kann es sich eine im harten internationalen Wettbewerb stehende Volkswirtschaft erlauben, auf solch lange Zeit einen so großen Teil der Mittel eines Etats in zwei wirtschaftlich zweifelhafte Großprojekte zu stecken und dringend gebrauchte sinnvolle Projekte nicht zu realisieren? Daran darf man zweifeln. Minister Carius muss also immer noch kämpfen, die planmäßige Fertigstellung der Neubaustrecke ist längst nicht in trockenen Tüchern.

Leider gerät mit dem Kampf um die Neubaustrecke die eigentliche Aufgabe des Ministers, für Verbesserungen im Thüringer Regionalnetz zu sorgen, zwangsläufig ins Hintertreffen. In einer seiner letzten Äußerungen bittet der Minister gar die Opposition um Mitarbeit bei der Beschaffung von Mitteln für den seit Jahren versprochenen Ausbau der Mitte-Deutschland-Verbindung und der Regionalstrecke Erfurt-Nordhausen. Dabei müsste ihm klar sein, dass dieser Kampf aussichtslos ist. Denn wo alles Geld in ein Projekt fließt, bleibt für die anderen nichts übrig.

Ist das wirklich die beste Verkehrspolitik für Thüringen? Ist es klug, alle berechtigten Zweifel an Wirtschaftlichkeit und Nutzen der Neubaustrecke einfach zu ignorieren? Ist es klug, mit dem kompromisslosen Festhalten an der Strecke in Kauf zu nehmen, dass das Geld für den Ausbau des Regionalnetzes fehlt und dieses nicht mit den künftigen Anforderungen Schritt halten kann? Ist es klug, in Kauf zu nehmen, dass sich der Fernverkehr aus allen Landesteilen zurückzieht und das Land als schlechten Ersatz aus dem ohnehin knappen eigenen Verkehrsetat teuren Regionalverkehr bestellen muss? Schon gibt es seitens der DB Gedankenspiele, die Verbindung Berlin-München zu beschleunigen, indem kleine Unterwegshalte ausgelassen werden. Am Ende könnte bei den schnellen Verbindungen selbst Erfurt zu den Verlierern gehören. Dann stünde Thüringen mit ziemlich leeren Händen da. Oder bricht sich vielleicht doch noch die Einsicht Bahn, dass es klüger sein könnte, einen Moment innezuhalten und das Projekt den heutigen Bedürfnissen anzupassen? Das muss ja nicht automatisch einen Bauabbruch bedeuten. Eine beschleunigte Verbindung von Berlin nach München ist nach wie vor erstrebenswert. Würde man aber die Strecke an den tatsächlich verbleibenden Bedarf anpassen und die Finanzierung zunächst auf den nördlichen (VDE 8.2.) und erst nach dessen Fertigstellung auf den südlichen Bauabschnitt (VDE 8.1) konzentrieren, entstünde wieder finanzieller Spielraum, um auch im Rest des Landes nennenswerte Verbesserungen stattfinden lassen zu können. Einem Minister, der so handelte, könnte niemand den Vorwurf machen, unverantwortlich zu handeln. Einem Minister, der alle Warnsignale missachtend an einem von der Zeit überholten Projekt festhält, hingegen schon.

Rückfragen bitte an Bernd Schlosser (Vorsitzender), Tel.: 036963-20040, E-Mail: b.schlosser@thueringen.pro-bahn.de
oder Olaf Behr (stv. Vorsitzender), Tel.: 03641-446836, E-Mail: o.behr@thueringen.pro-bahn.de
v.i.S.d.P.: Bernd Schlosser

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